BGH zum Vorrang des dinglichen Vorkaufsrechts bei Familie und Mieter – Ein Überblick zum Urteil vom 27. September 2024 (V ZR 48/23)
Das Urteil vom 27. September 2024 (Az. V ZR 48/23) knüpft dabei an eine vorherige Entscheidung (Beschluss vom 27. April 2023 – V ZB 58/22) an und sorgt für mehr Klarheit im Verhältnis dieser beiden Vorkaufsrechte.
Sachverhalt
Die Parteien sind ehemalige Eheleute, die nach ihrer Scheidung ein gemeinsames Haus in Meißen in Wohnungseigentum aufteilten. Durch notarielle Urkunde (2016) bildeten sie drei Wohnungen, von denen zwei auf den Beklagten und eine auf die Klägerin übertragen wurden. Dabei wurde zugunsten beider Seiten jeweils ein dingliches Vorkaufsrecht in das Grundbuch eingetragen. Konkret erhielt die Klägerin ein Vorkaufsrecht an einer der Wohnungen (Nr. 3).
- Verkauf an Dritte: Einige Zeit später (2019) verkaufte der Beklagte seine beiden Wohnungen an Dritte. Für Wohnung Nr. 3 (im Folgenden: Wohnung) war ein Kaufpreis von 27.000 € vorgesehen.
- Ausübung des Vorkaufsrechts durch die Klägerin: Die Klägerin machte ihr dingliches Vorkaufsrecht fristgerecht geltend, indem sie dies gegenüber dem beurkundenden Notar schriftlich erklärte.
- Parallel dazu: Die Wohnung war bereits vor der Aufteilung in Wohnungseigentum an einen Dritten (Mieter) vermietet. Dieser berief sich seinerseits auf das gesetzliche Mietervorkaufsrecht gemäß § 577 BGB und übte es ebenfalls aus.
In der Folge kam es tatsächlich zum Verkauf an den Mieter. Das dingliche Vorkaufsrecht der Klägerin wurde gelöscht, später jedoch im Grundbuch mit einem Widerspruch gegen die Löschung versehen (beschlossen durch den BGH im Rechtsbeschwerdeverfahren – V ZB 58/22).
Streitgegenstand und Instanzenzug
Die Klägerin verlangte vom Beklagten unter anderem:
- Auflassung des Wohnungseigentums (Wohnung Nr. 3) Zug um Zug gegen Zahlung von 27.000 €.
- Zahlung von Mieteinnahmen bzw. Nutzungsentschädigung, da der Beklagte trotz des ihrer Meinung nach wirksam ausgeübten Vorkaufsrechts weiterhin Mieten vereinnahmt habe.
- Feststellung einer weiteren Schadensersatzpflicht des Beklagten für alle Schäden, die ihr durch die Nichtübertragung der Wohnung entstehen.
- Landgericht: wies die Klage ab.
- Oberlandesgericht: verurteilte den Beklagten zwar zur Zahlung eines Teilbetrages aus den Mieteinnahmen, wies die Berufung der Klägerin aber in den Hauptpunkten (Auflassung, weitere Zahlungen) zurück.
Erst vor dem Bundesgerichtshof (BGH) konnte die Klägerin erfolgreich Revision einlegen. Das BGH-Urteil vom 27. September 2024 hebt die Entscheidung des Oberlandesgerichts in den klageabweisenden Teilen weitgehend auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück.
Rechtsfragen und Begründung des BGH
Dingliches Vorkaufsrecht vs. Mietervorkaufsrecht
Der zentrale Streitpunkt war, ob das gesetzliche Vorkaufsrecht des Mieters nach § 577 BGB Vorrang gegenüber einem dinglichen Vorkaufsrecht zugunsten eines (ehemaligen) Ehegatten hat. Nach Auffassung des Berufungsgerichts sollte das Mietervorkaufsrecht „stärker“ sein, wenn das dingliche Vorkaufsrecht nicht schon vor der Überlassung an den Mieter bestand.
Der BGH hat diese Auffassung korrigiert:
- Familienbegriff (§ 577 Abs. 1 Satz 2 BGB)
Nach § 577 Abs. 1 Satz 2 BGB ist das Mietervorkaufsrecht ausgeschlossen, wenn der Vermieter die vermietete Wohnung an einen Familienangehörigen veräußert. Der BGH stellt klar, dass dazu auch ein (ehemals) verheirateter Ehegatte zählt – selbst nach einer Scheidung. - Keine zeitliche Einschränkung
Der BGH führt aus, dass ein dingliches Vorkaufsrecht, das zugunsten einer nahestehenden Person (Familienangehörigen) im Grundbuch eingetragen wird, auch dann Vorrang vor dem Mietervorkaufsrecht behält, wenn es erst nach der Vermietung begründet worden ist. Es gibt keinen Grund, zwischen Vorkaufsrechten, die vor oder nach der Überlassung der Wohnung bestellt wurden, zu unterscheiden.
Zustandekommen des Kaufvertrags durch Ausübung des Vorkaufsrechts
Nach § 1098 Abs. 1 und 2 BGB führt die wirksame Ausübung des dinglichen Vorkaufsrechts zu einem Kaufvertrag mit demselben Inhalt wie der ursprüngliche Kaufvertrag mit dem Dritten. Der Kaufpreis (hier 27.000 €) würde dann von der Klägerin zu zahlen sein, während der Beklagte verpflichtet wäre, ihr die Wohnung gegen Zahlung dieses Betrags zu übertragen.
Auch die bereits erfolgte Veräußerung (und sogar die Löschung des Vorkaufsrechts) ändert daran nichts, wenn das dingliche Vorkaufsrecht – wie hier – Vorrang genießt. Denn durch § 1098 Abs. 2 BGB i.V.m. § 883 Abs. 2 und § 888 BGB besteht eine Art „Vormerkungswirkung“, sodass die Weiterveräußerung an den Mieter ins Leere geht. Sie ist relativ unwirksam gegenüber der Klägerin.
Praktische Bedeutung des Urteils
- Stärkung dinglicher Vorkaufsrechte für Familienangehörige
Das Urteil unterstreicht, dass ein dingliches Vorkaufsrecht, das zugunsten eines engen Familienmitglieds bestellt wurde, im Konfliktfall das Mietervorkaufsrecht aus § 577 BGB schlagen kann. Dies gilt unabhängig davon, wann das dingliche Vorkaufsrecht bestellt wurde. - Klarheit für die Immobilienpraxis
Der Vermieter (oder dessen Rechtsnachfolger) muss genau prüfen, wer vor wem vorrangig ist. Vermieter, die ein Vorkaufsrecht an Familienangehörige eingeräumt haben, erhalten die Sicherheit, dass dieses Recht in einem späteren Verkaufsfall nicht plötzlich durch das gesetzliche Mietervorkaufsrecht ausgehebelt wird. - Wichtige Details in notariellen Verträgen
Sowohl für Mieter als auch für potenzielle Käufer ist es essenziell, im Grundbuch sorgfältig zu recherchieren, ob ein dingliches Vorkaufsrecht besteht. Denn selbst wenn ein Kaufvertrag bereits geschlossen wurde, kann ein nachrangiger Erwerb ins Leere gehen. - Rechtsposition für Mieter
Das Urteil schränkt das Mietervorkaufsrecht nicht ein, wenn der Verkäufer tatsächlich direkt an einen Dritten veräußert, der kein Familienangehöriger ist. In allen anderen Fällen (ohne eingetragenes Vorkaufsrecht für einen Familienangehörigen) kann der Mieter sein gesetzliches Vorkaufsrecht weiterhin erfolgreich geltend machen.
Ausblick und Empfehlung
Mit dieser höchstrichterlichen Entscheidung präzisiert der BGH die Rangfolge von dinglichem und Mietervorkaufsrecht. Noch nicht abschließend entschieden ist damit jedoch, ob und wie im konkreten Einzelfall der Verkäufer Schadensersatz schuldet, wenn die dingliche Berechtigung unbeachtet bleibt und der Mieter „irrtümlich“ Eigentümer wird. Diese Fragen werden nun vom Oberlandesgericht in der neuen Verhandlung zu klären sein.
Für alle Beteiligten – Vermieter, Mieter und (ehemalige) Ehegatten – gilt:
- Frühzeitige Prüfung von Rechten, die an der Immobilie bereits bestehen (Grundbucheinsicht!).
- Rechtsberatung einschalten, wenn Vorkaufsrechte kollidieren.
- Vertragsgestaltung sorgfältig anpassen, gerade bei Scheidungen und vorangegangenen Teilungen im Wohnungseigentum.
Das Urteil des BGH vom 27. September 2024 (V ZR 48/23) schafft Planungssicherheit für all jene Fälle, in denen Mieter auf ihr Vorkaufsrecht pochen, obwohl bereits ein dingliches Vorkaufsrecht zugunsten eines Familienangehörigen vereinbart und eingetragen wurde. Entscheidend ist, dass dingliche Vorkaufsrechte – besonders innerhalb der Familie – weiterhin ein starkes Instrument bleiben, welches dem gesetzlichen Mietervorkaufsrecht nach § 577 BGB vorrangig sein kann.
Sollten Sie Fragen zu Vorkaufsrechten, zur Absicherung Ihrer Immobilie oder zu weiteren Themen des Immobilienrechts haben, kontaktieren Sie uns gern. Wir beraten Sie umfassend zu Ihren Rechten und Pflichten und unterstützen Sie bei allen notwendigen Schritten.
Hinweis: Dieser Blogbeitrag ersetzt keine individuelle Rechtsberatung. Für eine auf Ihren konkreten Einzelfall zugeschnittene Beratung vereinbaren Sie bitte einen Termin mit unserer Kanzlei.