BGH zur Frage, ob K.O.-Tropfen ein „gefährliches Werkzeug“ im Sinne von § 177 Abs. 8 Nr. 1 StGB sein können
Worum ging es konkret?
- Ein Angeklagter hatte zwei Frauen (darunter die spätere Nebenklägerin) in seine Wohnung eingeladen.
- Er träufelte heimlich mithilfe einer Pipette GBL-Tropfen („K.O.-Tropfen“) in deren Getränke, damit diese sexuell enthemmt würden.
- Bei einer der Frauen kam es zu erheblichen Bewusstseinseintrübungen, sodass sie keine wirksame Willensbildung mehr vornehmen konnte. Der Angeklagte nutzte diese Situation für sexuelle Handlungen aus.
- Das Landgericht Dresden verurteilte den Mann u.a. wegen besonders schweren sexuellen Übergriffs (§ 177 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und fünf Monaten. Insbesondere stufte das Landgericht die K.O.-Tropfen als „gefährliches Werkzeug“ ein.
Der 5. Strafsenat hob den Schuldspruch in Bezug auf den besonders schweren sexuellen Übergriff (soweit die Qualifikation nach § 177 Abs. 8 Nr. 1 StGB betroffen war) und im Gesamtstrafenausspruch auf und verwies die Sache an eine andere Kammer des Landgerichts zurück. Er begründete diese Aufhebung damit, dass die K.O.-Tropfen nicht als „gefährliches Werkzeug“ einzuordnen seien.
Rechtlicher Hintergrund
a) § 177 StGB und die Qualifikationstatbestände
Der § 177 StGB (Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) sieht in seinen Absätzen 5 ff. bestimmte Qualifikationstatbestände vor. Der besonders schwere Fall gemäß § 177 Abs. 8 Nr. 1 StGB erfasst u.a. Sexualstraftaten, bei denen der Täter oder die Täterin
- … eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug bei sich führt oder
- … mit einem gefährlichen Werkzeug droht oder
- … dieses verwendet.
Das Landgericht Dresden hatte bei seiner Verurteilung auf das „Verwenden eines gefährlichen Werkzeugs“ abgestellt (vgl. § 177 Abs. 8 Nr. 1 Alt. 2 StGB).
b) Der Begriff des „gefährlichen Werkzeugs“
- Nach gefestigter Rechtsprechung sind „gefährliche Werkzeuge“ Gegenstände, die nach ihrer objektiven Beschaffenheit und der Art ihrer konkreten Verwendung geeignet sind, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen.
- Der BGH und die Literatur betonen dabei regelmäßig, dass es sich bei einem „Werkzeug“ um einen festen körperlichen Gegenstand handelt. Flüssigkeiten, Gase oder andere Stoffe – wie eben K.O.-Tropfen – werden nicht ohne Weiteres unter diesen Begriff subsumiert.
- Narkotisierende, sedierende oder ätzende Stoffe finden bei Körperverletzungsdelikten eher über das Tatbestandsmerkmal „Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen“ (§ 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB) Berücksichtigung.
Die Entscheidung des BGH im Überblick
Der 5. Strafsenat begründet seine Entscheidung vor allem mit dem Wortlaut und der systematischen Auslegung:
- Keine feste Form = kein Gegenstand = kein Werkzeug
K.O.-Tropfen (GBL bzw. GHB) sind Flüssigkeiten, haben also keine feste Form. Ein Werkzeug wird im allgemeinen Sprachgebrauch als fester Gegenstand verstanden, den man „zweckgerichtet benutzt, um etwas zu bearbeiten“. Flüssigkeiten oder Gase sind in diesem Sinne keine Werkzeuge, sodass sie nicht als „gefährliches Werkzeug“ in Betracht kommen. - Systematische Erwägungen
Der BGH verweist auf die parallel gelagerten Fälle, insbesondere auf § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB (schwerer Raub). Dort hat die Rechtsprechung bereits entschieden, dass sedierende oder narkotisierende Substanzen, die erst im Körper wirken, kein gefährliches Werkzeug im Sinne des Raubtatbestandes sind. - Pipette ist zwar ein Gegenstand, aber nicht von außen einwirkend
Dass der Angeklagte die Tropfen mit einer Pipette in das Getränk träufelte, ändere nichts daran, dass die eigentliche Schädigung durch die sedierende Substanz selbst erfolge – nicht durch die Pipette. Diese sei lediglich das „Hilfsmittel zur Beibringung“, nicht das eigentliche Tatwerkzeug, das direkt am Körper (von außen) eine Verletzung verursacht. - Abgrenzung zu § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB
Flüssige Substanzen, die gesundheitsschädigend wirken, werden vielmehr als „Gift oder andere gesundheitsschädliche Stoffe“ (§ 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB) behandelt. Eine Einstufung unter das Merkmal „gefährliches Werkzeug“ (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) ist erst dann denkbar, wenn ein Täter etwa eine ätzende Flüssigkeit direkt ins Gesicht gießt (und damit von außen auf die Haut oder die Augen einwirkt). Die reine orale Verabreichung von K.O.-Tropfen, die über den Magen in den Körper gelangen, falle nicht darunter. - Keine Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG)
Laut BGH wäre es eine unzulässige Analogie, Flüssigkeiten unter den Werkzeugbegriff zu subsumieren. Die Wortlautgrenze dürfe nicht überschritten werden. - Konsequenz: Aufhebung des Urteils in diesem Punkt
Weil das Landgericht Dresden die Tat als besonders schweren sexuellen Übergriff nach § 177 Abs. 8 Nr. 1 StGB wertete, muss nun eine andere Strafkammer neu verhandeln. Denkbar ist, dass im zweiten Durchgang eine Strafbarkeit nach § 177 Abs. 7 Nr. 2 StGB (Täter führt ein betäubendes Mittel mit sich und setzt es ein) oder sogar nach § 177 Abs. 8 Nr. 2b StGB (Herbeiführung einer konkreten Todesgefahr) eingehender geprüft wird.
Folgen für die Praxis
Strafverschärfende Wirkung?
Die Entscheidung des BGH macht klar, dass die Anwendung von K.O.-Tropfen zwar grundsätzlich als „Gewalt“ gemäß § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB angesehen werden kann – was sich strafschärfend auswirkt. Allerdings führt die bloße Verwendung dieser Tropfen nicht zur weiteren Erhöhung des Strafrahmens, wie es bei der Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs geschehen würde.
Mögliche Einstufung als konkrete Todesgefahr
Der BGH hat zudem angedeutet, dass das erneute Tatgericht prüfen könnte, ob nicht die Variante des § 177 Abs. 8 Nr. 2b StGB erfüllt ist, wenn eine konkrete Lebensgefahr bestand (z.B. durch Erstickungsgefahr infolge Bewusstlosigkeit und Erbrechens). Würde das Gericht zu dem Schluss kommen, dass ein sog. „Beinahe-Erstickungsereignis“ oder eine unmittelbar drohende Todesgefahr vorlag, käme darüber ggf. eine (höhere) Qualifikation in Betracht.
„Gefährliche Körperverletzung“ bleibt bestehen
Unabhängig von der Einstufung im Sexualstrafrecht kann die Heimlichkeit der Verabreichung von K.O.-Tropfen und das damit verbundene Gesundheitsrisiko weiterhin eine gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB („Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen“) begründen. Strafverschärfend kann zudem in der Praxis gewertet werden, dass K.O.-Tropfen oftmals in Kombination mit Alkohol zu gravierenden gesundheitlichen Risiken führen können.
Kritik an der Entscheidung
Obwohl der BGH in seiner Entscheidung konsequent an die klassische Auslegung anknüpft, ruft das Urteil auch Kritik hervor:
- Begriffliche Engführung des „Werkzeugs“
- Kritiker:innen bemängeln, dass der BGH den Begriff des „Werkzeugs“ zu eng an festen Körpern festmacht.
- In einer sich stetig technologisierenden Welt ließen sich durchaus Argumente finden, auch flüssige oder gasförmige Stoffe als „Werkzeuge“ aufzufassen, sofern sie – wie hier – zielgerichtet eingesetzt werden, um Menschen zu schädigen.
- Rechtsgüterschutz / Opferinteressen
- Insbesondere bei Sexualstraftaten ist die Gefahr groß, dass die bloße Anwendung sedierender Substanzen (K.O.-Tropfen) das Opfer wehrlos macht und ein hohes Missbrauchsrisiko schafft.
- Wer ein „festes“ Werkzeug (z.B. Holzknüppel, Messer) verwendet, wird nach dieser Rechtsprechung zwar härter bestraft. Doch K.O.-Tropfen können mindestens ebenso gravierende Folgen für das Opfer haben (z.B. Bewusstlosigkeit, gesundheitliche Risiken, konkrete Todesgefahr).
- Eine rein formalistische Sichtweise („Flüssigkeiten sind keine Gegenstände“) greift daher zu kurz, so das Argument.
- Widerspruch zu älteren BGH-Entscheidungen?
- Der 5. Strafsenat weist selbst darauf hin, dass frühere Beschlüsse von anderen Senaten (z.B. BGH, Beschl. v. 06.03.2018 – 2 StR 65/18; Beschl. v. 15.07.1998 – 1 StR 309/98) möglicherweise in eine andere Richtung tendiert haben oder zumindest Interpretationsspielräume ließen.
- Hier hätte sich der BGH klarer damit auseinandersetzen können, ob er tatsächlich mit der alten Rechtsprechung bricht oder sie nur modifiziert.
- Komplexe Mehrfach-Qualifikation
- Ein Argument gegen den BGH wäre, dass die Tat qualifiziert wird nach § 177 Abs. 8 Nr. 1 (Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs) und zusätzlich nach § 224 Abs. 1 Nr. 1 („Beibringung von Gift“) – also kumulativ.
- Der Gesetzgeber wollte nach Auffassung einiger Stimmen den Begriff des „gefährlichen Werkzeugs“ in § 177 StGB besonders weit verstehen, um eine adäquate Bestrafung sicherzustellen.
- Dem tritt der 5. Strafsenat nun entgegen: Wenn die Norm in § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB („Giftbeibringung“) eigens geschaffen ist, um den spezifischen Unrechtsgehalt abzufangen, sei es systemfremd, zusätzlich über den Weg des „Werkzeugbegriffs“ dasselbe Unrecht nochmals zu qualifizieren.
- Strafzumessungsproblematik
- Kritiker weisen darauf hin, dass die Entscheidung in der Praxis eine gewisse Unsicherheit erzeugen könnte: Einerseits ist klar, dass die Verwendung sedierender Stoffe eine gefährliche Körperverletzung sein kann. Andererseits entfällt die besonders hohe Strafdrohung aus § 177 Abs. 8 Nr. 1 StGB, wenn man eben kein „gefährliches Werkzeug“ annimmt.
- Dadurch könnte der Strafrahmen insgesamt geringer ausfallen, es sei denn, man greift auf § 177 Abs. 8 Nr. 2 (z.B. konkrete Todesgefahr) zurück, was aber wiederum an strengere Beweisanforderungen geknüpft ist.
Ausblick und Fazit
Der Beschluss zeigt einmal mehr, wie wichtig die exakte Auslegung gesetzlicher Begriffe im Strafrecht ist. Der BGH folgt seiner Linie, wonach Flüssigkeiten kein „Werkzeug“ sind und der reine Stoffwechselprozess im Körper nicht als Einwirkung „von außen“ gewertet werden kann.
Für die Praxis bedeutet das:
- Wer K.O.-Tropfen im Rahmen eines Sexualdelikts verwendet, verwirklicht zwar eine gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB und eine Sexualstraftat nach § 177 StGB mit Anwendung von Gewalt.
- Eine weitere Steigerung über das Qualifikationsmerkmal „gefährliches Werkzeug“ nach § 177 Abs. 8 Nr. 1 Alt. 2 StGB scheidet nach Auffassung des 5. Strafsenats aus.
- Allerdings kann sich – je nach Lage des Falls – die konkrete Todesgefahr aus § 177 Abs. 8 Nr. 2b StGB verwirklichen, was wiederum zu einem höheren Strafrahmen führen kann.
Kritisch bleibt festzuhalten, dass die BGH-Entscheidung den formalen Wortlaut strikt über den materiellen Schutzzweck stellt: K.O.-Tropfen können mitunter nicht weniger gefährlich sein als ein physischer Schlagstock. Auch wenn der Senat eine Aushöhlung des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG) befürchtet, hätte es Argumente gegeben, den Begriff „gefährliches Werkzeug“ mehr „opferorientiert“ auszulegen. Solange der Gesetzgeber keine ausdrückliche Klarstellung vornimmt, bleibt die Position des BGH aber maßgeblich für die Strafverfolgung in Deutschland.
Kurzum: Die Entscheidung verschafft Klarheit in einer praktisch häufig relevanten Konstellation, stößt aber zugleich auf Bedenken, weil sie die hohen Risiken von K.O.-Tropfen nicht über das Merkmal des gefährlichen Werkzeugs abbildet. Im Ergebnis sieht der BGH andere Wege (z.B. konkrete Todesgefahr, gefährliche Körperverletzung), um einer besonders rücksichtslosen Verabreichung narkotisierender Stoffe strafrechtlich zu begegnen.
Eine endgültige Klärung in der Gesamtschau dürfte erst dann erreicht sein, wenn der Gesetzgeber nachbessert oder weitere höchstrichterliche Entscheidungen konkreter zur Einordnung von Flüssigkeiten als Werkzeug Stellung nehmen. Bis dahin gilt: K.O.-Tropfen sind „Giftbeibringung“, aber kein „gefährliches Werkzeug“ – und es bleibt der Praxis vorbehalten, die Taten ggf. als konkrete Todesgefahr zu würdigen und entsprechend zu bestrafen.
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BGH Beschl. v. 08.10.24, Az. 5 StR 382/24